Archiv für den Monat Februar 2020

CDU: Orientierungsverlus der bürgerlichen Mitte


Das Führungsvakuum und der Richtungsstreit in der CDU spiegelt den Rollenverlust des alten Bürgertums wider

Wahre Krisen bemerkt man manchmal erst, wenn es fast zu spät ist. Das ist beim Klimawandel so und auch in der tiefen politischen Krise infolge der Ereignisse in Thüringen. Denn jetzt ist es nicht mehr nur die schon lange um ihre Existenz bangende SPD, die verzweifelt nach Kurs und Führung sucht. Mit einem Mal hat es auch die bürgerliche Volkspartei schlechthin erwischt, die CDU.

Jahrzehntelang hat sie das Land regiert in guten wie in schwierigen Zeiten. Aber nun weiß diese stets so selbstsichere CDU nicht mehr, ob sie in einem kleinen Ost-Bundesland einem sozialdemokratischen Linken wie Bodo Ramelow wieder ins Amt verhelfen sollte oder einem FDP-Mann von Gnaden des Faschisten Björn Höcke. Links- und rechtsextrem – beides »gleich schlimm«? Allein dass die CDU in einer völlig veränderten Parteienlandschaft und trotz ihres eigenen Bedeutungsverlustes noch immer an diesem aus dem Kalten Krieg stammenden Weltbild der Äquidistanz festhält, zeigt, dass die Christdemokraten ihren geistigen und moralischen Halt verloren haben.

Und nicht nur die gesamte Parteiführung hat versagt, genauso wie die der FDP. Der bürgerlichen Mitte, welche die Union so lange repräsentierte, ist, so scheint es, in erheblichen Teilen der Kompass abhanden gekommen. Paktieren mit einer Partei, die an die schlimmste Epoche deutscher Geschichte anknüpft, um trotz eigener Wahlniederlage die Wiederwahl eines »Roten« zu verhindern: Das fand und findet nicht nur Sympathie in der Ost-CDU, sondern auch in einem verstockten CDU-Westmilieu, das in der Kohl-Zeit noch das Sagen hatte und von dem ein nennenswerter Teil schon zur AfD übergelaufen ist. Beim Wähler allerdings nicht: Die CDU ist gerade bei der Bürgerschaftswahl in Hamburg abgewatscht worden, und auch in Thüringen ist sie in den Umfragen deutlich gefallen. Der Wähler scheint ein besseres Gespür dafür zu haben, wohin man sich klar abgrenzt und was demokratisch noch geht.

Die Desorientierung reicht aber viel weiter. In ihr äußert sich die Angst des alten bundesrepublikanischen Bürgertums, zerdrückt zu werden zwischen einer neuen »grün-hedonistischen« Führungsschicht und der neu-alten Rechten. Im Osten hat sich ein liberal-bürgerliches Zentrum seit der Wende im größeren Umfange gar nicht erst wieder ausgebildet. Die Unsicherheit betrifft so gut wie alle Zukunftsfragen: Soll die vom Aussterben bedrohte alte Industrie erhalten oder der Aufbruch in eine nachhaltige, klimaneutrale digitale Wirtschaft gewagt werden? Was tun gegen den Vormarsch der Nationalisten, Fremdenhasser und Autokraten? Soll, kann das Land sich abschotten gegen die wachsende Zahl von Migranten und die Unbilden der Globalisierung? Oder will es so weltoffen und tolerant bleiben, wie es sich in den vergangenen Jahrzehnten entwickelt hat? Und wie dennoch den sozialen Zusammenhalt einer fragmentierten, alternden Einwanderungsgesellschaft wahren?

Das Bewahrenswerte bewahren, indem es in Neuem aufgehoben wird: Das war lange das Erfolgsgeheimnis der Union und damit des Landes. Wenn die CDU ihre Führungsrolle nicht auf Dauer an die Grünen verlieren will, müssten sie und das von ihr noch immer vertretene bürgerliche Milieu von ihnen lernen, ohne sie zu umarmen: Nicht auf Koalitionen und Machterhalt schielen, sondern sich zu allererst auf die eigenen Werte und Ziele besinnen. Was heißt liberal-konservativ heute in einer veränderten Welt und Gesellschaft? Wie kann die soziale Marktwirtschaft, ihr Markenkern, ökologisch modernisiert werden? Wie den Ängsten vieler Bürger vor sozialem Abstieg und Bedeutungsverlust begegnen und dem Gefühl von Heimatlosigkeit? Wie Sicherheit und äußeren wie inneren Frieden gewährleisten trotz aller Gefahren, die sich gerade in Hanau wieder gezeigt haben?

Auf all diese Fragen muss die CDU überzeugende Antworten finden. Und dann eine neue Führungsperson, die überzeugend dafür steht. Lernen könnte sie von Bayerns Ministerpräsidenten Markus Söder. Er hat die CSU, nachdem auch sie sich 2018 vor der Landtagswahl verirrt hatte, wieder gefestigt und ökologisch geöffnet. Und wirkt in der irrlichternden Union jetzt – welch eine Ironie – wie ein Fels in der Brandung.

Vor gut zwanzig Jahren, nach der Spendenaffäre und der Abwahl von Helmut Kohl, schien die CDU schon einmal dem Untergang geweiht. Bis Angela Merkel kam. Wenn die Partei nicht bald die Kurve kriegt, könnte es diesmal zu spät sein.

(Essay in Publik Forum 04/20)

Überreste des Frauenaußenlagers Neugraben des KZ Neuengamme

Vom Schweigen


Reden, wo es nichts zu sagen gibt; das Gegenteil, wenn es gälte, sich offen auszutauschen: Darüber kommt das gesellschaftliche Gespräch zum Erliegen

Wer kennt das nicht: Man steigt in die Bahn oder den Bus, hat einen anstregenden Tag vor oder hinter sich und möchte abschalten, seinen Gedanken nachhängen, lesen. Aber dann setzt oder stellt sich jemand neben einen, die oder der lauthals telefoniert. Ungewollt bekommt man das halbe Gespräch mit. Über ernste Dinge oder Nichtigkeiten. Oft Kommunikationsmüll.

Kürzlich fuhr ich von Berlin nach Hamburg zurück. Hinter mir saß ein Mann, der die ganze Zeit laut in sein Handy sprach. Ich kam von einer Tagung anlässlich des 75. Jahrestags der Befreiung von Auschwitz zur Frage, wie in Zukunft der Shoa gedacht werden kann, wenn die letzten Überlebenden gestorben sind. Mark Dainow, Vizepräsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, hatte dort ein Grußwort gehalten. Mit leiser, stockender Stimme berichtete er, dass er erst vor nicht lange Zeit bei einem Besuch in Yad Vashem erfahren habe, dass allein von der Seite seines Vaters 58 Familienangehörige ermordet wurden. 58. In ganz Europa, nicht nur in Auschwitz. Was soll, was kann man da noch sagen? Nichts.

Zum 75. Jahrestag der Rettung der wenigen Überlebenden in der größten Mordfabrik der Nazis durch die Rote Armee sind wieder viele Reden gehalten worden. Von unserem Bundespräsidenten, von anderen. Wichtige, bedeutende, nachdenkliche Worte. Aber auch überflüssige. Was kann zu diesem größten aller Verbrechen, dem Völkermord an den Juden Europas und an ihrer, unserer Kultur noch gesagt werden, was nicht schon zehntausende Male gesagt worden ist? Dennoch ist das rituelle Gedenken notwendig, gerade heute angesichts der Wiederstarkens der Juden- und Menschenhasser, der Nationalisten und Volksverführer, damit das, was damals im Namen von Großdeutschland Deutsche angerichtet haben, niemals vergessen wird. Das sind wir den Opfern und uns schuldig. Der Vergangenheit, der Gegenwart, der Zukunft.

Das Beschweigen der dunklen Vergangenheit

Aber eigentlich konnte ich nach dem wenigen Worten von Mark Dainow auf der Tagung schon nicht mehr richtig zuhören. Mein Vater war als Wehrmachtsoffizier 1944 in Polen zu der Zeit, als der Warschauer Aufstand niedergeschlagen wurde und Tausende starben. Ob er daran beteiligt war, weiß ich nicht. Er hat nie über seine Kriegszeit gesprochen. Er hat darüber bis zuletzt geschwiegen, wie die meisten seiner Täter- und Mittätergeneration. Wie auch viele Überlebende. Ich führe manchmal ein inneres Zwiegespräch mit ihm. Aber ich bekomme keine Antworten.

Reden, wenn es nichts oder nichts mehr zu sagen gibt; schweigen, wenn es so viel zu sagen gäbe: Das ist der Zwiespalt. Unser Leben besteht heute, so habe ich bisweilen den Eindruck, nur noch aus bisweilen leerer Kommunikation. Wir sprechen und schreiben von früh bis spät. Schon vor dem Frühstück auf Facebook oder Twitter. Live, am Telefon, am Computer. Unterwegs auf Whatsapp, per SMS oder E-Mail. Bei der Arbeit. In der Freizeit. Mit der Partnerin, dem Partner, den Kindern, Freunden, Kollegen, Fremden. Nur selten mit uns selbst. Manche manchmal auch mit Gott. Oder, die Kehrseite: mit niemandem.

Gespräch verlangt Zuhören

Das gesellschaftliche Gespräche jedoch kommt vor lauter Gerede und Geplapper zum Erliegen. Weil dazu vor allem auch Zuhören gehört. Und bisweilen Schweigen. Nachdenken kann man am besten, wenn Stille einkehrt. Wirkliche Verständigung ist nur möglich, wenn man dem Gesagten Raum und Zeit gibt nachzuhallen, zu wirken, sich zu entfalten. Stattdessen besprechen wir alles solange, bis der Sinn der Worte verloren geht. Die erste Wahl eines Ministerpräsidenten in Deutschland seit 1945 mit Hilfe der Partei eines Faschisten, nur wenige Tage nach dem Gedenken an Auschwitz und die Shoa, ein historischer Tabubruch: Es blieb kaum Zeit zum Erschrecken, zum Innehalten, zum Besinnen. Was hat das zu bedeutenden, welche Folgen kann das haben? Ist das rückgängig zu machen, wie die Kanzlerin sagt? Kann, wird es sich wiederholen? Aber es musste ja alles gleich analysiert und kommentiert werden, möglichst scharf oder möglichst relativierend, je nach dem. Worte, nicht als Worte.

Man kann nicht nicht kommunizieren, hat Paul Watzlawick gesagt. Auch Schweigen ist eine Form der Mitteilung. Aber eben eine andere als lautes Reden und Zutexten. Es kann Anteilnahme ausdrücken, Empathie, Mitgefühl, Nachdenklichkeit, Verbundenheit, Ratlosigkeit. Vieles, was Worte nicht vermögen. Reden ist viel. Nichtreden manchmal mehr.

Seit eineinhalb Jahren wohne ich am Südrand von Hamburg, nahe, aber doch fernab des Großstadtgetriebes. Ich kann theoretisch jederzeit mit so gut wie jedem auf der Welt in Kontakt treten. Aber oft merke ich, dass ich gar keine Lust habe mich mitzuteilen. Wenn ich völlige Ruhe haben will, gehe ich aus dem Haus in den Wald und auf die Heide. Ohne Handy, mit meinem Hund. Er redet nicht mit mir, ich mit ihm nur das Nötigste. Wir verstehen uns auch so. Mit Menschen geht es mir manchmal genauso. Es ist das Schönste.

(Leicht gekürzte Version meiner neuen Kolumne in der Zeitung Politik & Kultur des Deutschen Kulturrates)

Das Foto zeigt einen Platz in der Nähe meines Wohnortes im Süden Hamburgs, wo sich bis zum Frühjahr 1945 ein Außenlager des KZ Neuengamme befand. 500 jüdische Frauen mussten von dort aus Zwangsarbeit leisten, u.a. Bomben und Trümmer räumen. Die wenigen Überlenden wurden in einem Todesmarsch ins KZ Bergen-Belsen getrieben, wo die meisten von ihren starben. Niemals vergessen!